Dienstag, 15. November 2022
Die elfte Jungfrau
Die elfte Jungfrau
Dunkelheit rings umher. Die junge Frau war verzweifelt. Seit sie die niederschmetternde Diagnose kannte, kam es ihr in jedem Augenblick so vor, als sei sie von Dunkelheit umgeben. Völlige Finsternis. Die Ärztin war sehr freundlich gewesen. Aber das änderte nichts daran. Der Vater würde sterben. Schon bald. Und dann? Niemand mehr, der ihr zuhörte, mit Rat und Tat zur Seite stand.
Allein der Gedanke, dass sie das alles noch einmal durchleben müsste: Noch einmal um eine Beerdigung kümmern. Die Wohnung ausräumen. Wie sollte sie das schaffen? Sie hatte schon so viel verloren. Sie konnte nicht noch mehr Tod ertragen, den Vater im Krankenhaus zu besuchen kam ihr so sinnlos vor. Also blieb sie weg. Seit Wochen. Niemand wusste, was sie durchmachte. Es war jetzt alles dunkel.
Plötzlich sah die junge Frau einige Lichtpunkte. Zuerst verstand sie nicht. Werd ich jetzt wahnsinnig, fragte sie sich. Hab ich Halluzinationen? Sie sah zehn Öllampen in der Dunkelheit. Dann hörte sie Stimmen. Nachdem sie eine Weile gelauscht hatte, war klar: Dies waren sogenannte Jungfrauen, Teil eines archaischen Hochzeitsrituals. Sie harrten mit den Öllampen in der Dunkelheit aus, um den Bräutigam zu begrüßen und in den Hochzeitssaal zu begleiten. Was für ein Quatsch! dachte die junge Frau düster. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass die Jungfrauen eingeschlafen waren.
Eine Hochzeit. Die junge Frau dachte an das vergilbte Hochzeitsfoto ihrer Eltern. So jung, so lebendig sahen sie aus. Der Vater hatte ihr mal lächelnd erklärt: Die Frau zu heiraten, das war die klügste Entscheidung meines Lebens. Nachdem die Mutter gestorben war, hatte der Vater kaum noch so gelächelt. War vielleicht auch ihre Schuld. Sie hätte sich ganz neu auf ihn einstellen müssen, auf den alten, gebrochenen Mann. Aber sie konnte nicht neu anfangen. Konnte sich nicht neu aufraffen… Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Erinnerungen, Vorwürfe, Frust. Dunkelheit.
Es musste schon gegen Mitternacht sein, da erhob sich lautes Rufen.
Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen!
Die Hälfte der Jungfrauen hatte kaum noch Öl, funzelige Lichtlein waren geblieben. Die junge Frau hörte, dass die Jungfrauen stritten. Sie sah, dass sich diejenigen, die nicht genügend Öl mitgebracht hatten, von der Gruppe lösten. Die kaufen Nachschub, vermutete die junge Frau. Aber die anderen gingen immer weiter, sie gingen immer weiter in die Dunkelheit hinein. Verwundert und fasziniert folge die junge Frau ihnen.
Wo gehen die bloß hin, fragte sie sich. Warum machen sie sich überhaupt auf, es ist doch alles dunkel und sinnlos hier.
Die junge Frau blieb abrupt stehen. Das kann doch nicht… Ungläubig rieb sie sich die Augen. In der Dunkelheit hatte sich eine Tür geöffnet. Die 5 Jungfrauen gingen hinein, dann schloss sich die Tür wieder. Eine Tür? Seit wann gibt es hier eine Tür? Warum hat mir das noch nie jemand gesagt?
Die Frau sah sich um, nach rechts und nach links, dann schlich auch sie sich an die Tür heran. Sie war verschlossen. Das hatte sie nicht anders erwartet. Sie tastete die Tür ab. Da schien eine Inschrift zu sein. Und da – ein Schlüsselloch. Noch einmal sah sich die Frau nach allen Seiten um, dann kniete sie nieder und presste ein Auge ans Schlüsselloch.
Dahinter öffnete sich ein weiter Raum. Es war nicht so hell, wie sie erwartet hatte. Ihre Augen sahen mildes, warmes Licht. Kerzen beleuchteten die Langen tafeln. Menschen saßen daran und aßen. Es sah aus, wie ein Festmahl. Bloß dass niemand gierig zulangte. Ein Bissen schien genug zu sein, um den Hunger zu stillen. Es war genug für alle da. Die junge Frau spürte, wusste, dass auch ihre Mutter und ihre Freundin dort waren, auch wenn sie jetzt nicht zu sehen waren. Alle waren dort eine Gemeinschaft. Sie ließ den Blick weiter schweifen. Durch hohe Fenster erkannte sie etwas Himmel, außerdem Türme und Stadttore. Doch das war nicht der Himmel, den sie kannte. Ein neuer Himmel. Und diese Stadt, so etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie war geschmückt, wie eine Braut. Alles sah neu aus, ganz neu. Und in der Luft lag eine Freude, wie… Die junge Frau überlegte, woher ihr diese Freude bekannt vorkam. Es war wie Weihnachten, überlegte sie. Wie Freude über ein ganz neues Leben. Als sie an Weihnachten dachte, trafen ihre Augen auf die des Bräutigams. Er nickte ihr zu.
Schritte näherten sich von hinten. Schnell löste sich die junge Frau vom Schlüsselloch und trat zur Seite. Es waren die verspäteten Jungfrauen, jetzt mit neu aufgefüllten Lampen. Doch die Tür blieb zu.
Hatte sie nur geträumt? Nein, da war sie noch, die Tür. Sie fühlte das kühle Holz und sie sah die Tür auch. Seit sie das Licht auf der anderen Seite gesehen hatte, kam ihr die Dunkelheit nicht mehr ganz so dunkel vor. Sie konnte die Inschrift auf der Tür jetzt gut erkennen. „Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu.“
Nachdenklich strich die Frau mit dem Finger über die Inschrift. Legte den Finger auf das Schlüsselloch und nahm ihn wieder beiseite. Ein Lichtstrahl fiel durch das Schlüsselloch in die Dunkelheit. Wie ein Weg. „Der Weg ins Leben“, flüsterte die junge Frau. „Mein neuer Weg zurück ins Leben.“
Dann zog sie ihr Telefon aus der Tasche und sah es lange an. Alles neu, dachte sie. Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu.
Und dann wählte sie.
Papa? Ich bin’s. Ich will zu dir kommen. Einen neuen Versuch machen… Ja, nochmal neu…
Dann machte sich die junge Frau auf den Weg. Und obwohl sie die Tür mit dem Schlüsselloch immer weiter hinter sich ließ, kam es ihr so vor, als käme sie immer näher an das Licht heran.
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