Evangelische
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Mittwoch, 14. Dezember 2022

Besser spät als nie

Wiedersehen 1 (Hoheslied 2, 8-13)

8Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. 9Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. 10Mein Freund antwortet und spricht zu mir:

Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! 11Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. 12Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. 13Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!

Wiedersehen 2

Der Bahnsteig ist zu lang. Wenn ich die Bereiche A bis C im Blick habe, sehe ich nicht, ob sie in G bis D aussteigt und womöglich die Treppe in D nimmt, runter in den Tunnel. Wenn ich mich in Richtung des Abschnitts D drehe, sehe ich nicht, wenn sie in A, B oder C aussteigt, womöglich ganz vorn bei A den Aufzug nimmt oder in meinem Rücken die Rolltreppe. Also wende ich den Kopf hin und her, hin und her. Es nervt mich, dass ich nicht nach der Wagennummer gefragt habe, aber jetzt ist es zu spät, jetzt fährt der Zug schon ein, jetzt wird sie keine Hand mehr frei haben fürs Handy. Also wende ich den Kopf und ärgere mich. In der Hand eine Tüte reifer Feigen – das waren immer ihre Lieblingsfrüchte…Was mache ich denn, wenn wir uns wirklich verpassen? Bleibe ich hier stehe und vertraue, dass sie zurückkommt? Lasse ich sie ausrufen am Servicepoint? Renne ich zur Straßenbahn? Meine Gedanken werden immer düsterer. Vielleicht ist sie gerade an mir vorbei gegangen und wir haben uns nicht erkannt. Nach all der Zeit. Missmutig denke ich an mein Spiegelbild, an die Falten beim Kinn. Verscheuche mit dem Fuß eine fette Taube. Dann sehe ich sie. Und lächle, mein ganzes Gesicht zieht mich nach oben, weg von allem was-wäre-wenn, weg von allem, was vergangen ist und vorbei, hin zu dem lachenden Gesicht der Freundin, die ich schon so lange nicht gesehen habe.

Wiedersehen 3

Er schaut auf den Boden vor seinen Füßen. Leise übt er seinen Text: „Vater, ich habe gesündigt an Gott und an dir. Ich bin es nicht wert, dein Sohn zu sein. Bitte, lass mich dennoch als Sklave bei dir dienen.“ Er stellt die Worte um, malt sich Gespräche, ganze Szenen aus. Meistens enden sie damit, dass der Vater ihn fortjagt. Würde er betteln? Sicher nicht darum, bleiben zu dürfen. Aber um etwas Brot? „Vater, ich bin nicht wert, dein Sohn zu heißen“, murmelt er, dann kommt ihm die Anrede „Vater“ doch schon wieder zu vertraut vor. Wie spricht man den eigenen Vater an, wenn man ihn so enttäuscht hat? „Herr“, das ist doch auch komisch. Was, wenn er gar nicht ausreden darf? „Herr, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Kind heiße…“

Vielleicht war es ein Geruch oder ein Klang, das Gurren der Tauben vielleicht. Der junge Mann hatte grübelnd die Zeit vergessen und spürte nun plötzlich, dass er fast angekommen war. Er hob den Kopf um sich zu orientieren. Wie tröstlich die vertraute Landschaft ist, der alte Baum dort, der Acker. Der junge Mann drehte sich langsam einmal um die eigene Achse, nahm es in sich auf. Die Orte seiner Kindheit und Jugend. Der Feigenbaum, der Weinstock, duftend und blühend. Als er sich zum Weitergehen wendete, kam ihm der Vater mit offenen Armen entgegen. „Mein Sohn ist wieder da!“

Wiedersehen 4

Sie waren alle um Freundlichkeit bemüht. Na, oder zumindest um Professionalität. Die Vertretungsärztin, die Schwestern, der Typ am Empfang. Die eine betont sachlich, die andere eher mütterlich und mit vielen gutgemeinten Ratschlägen: „Sie sind ja noch jung und können es gleich wieder probieren“. Sie hatte den Mutterpass zurückbekommen, in dem stand, dass sie nun doch keine werdende Mutter mehr sei. Auskunft gegeben über Wohnort und Versicherung und dass sie bald abgeholt würde. „Bitte nehmen sie solange im Wartezimmer Platz“. Im Stimmengewirr der Praxis war sie wie unter Wasser, ertrinkend, in einer stummen, durchsichtigen Welt. Allein. Innendrin tot und allein. Mit leeren Augen stierte sie auf ihren leeren Bauch.

Dann ging die Tür auf. Sie hob den Kopf. Der Liebste betrat das Wartezimmer und breitet die Arme aus: "Komm her, meine Schöne!" Schnell sprang sie vom Stuhl, barg ihren Kopf an seinem Hals und tauchte auf. „Ich bin nicht allein, ich bin bei ihm. Ich bin nicht tot, ich lebe.“ Endlich kann sie weinen.

Wiedersehen 5

„Jetzt ist es aber wirklich allerhöchste Zeit! Bitte, geh und hol die Kiste runter! Aber sei vorsichtig auf der Steige!“ Ihr Ton klingt schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Entschuldigend streicht sie ihrem Mann übers Knie. Er lässt die Broschüren übers „Betreute Wohnen“ sinken, legt seine Hand auf ihre. Wie knochig und sehnig und alt ihre Hände aussehen! „Ich mach es nachher, Schatz. Ich bin kein junger Hirsch mehr, weißt du.“ Nach dem Frühstück machen sie sich gemeinsam ans Werk. Es dauert, bis sie mit der Stange die kleine Lasche der Dachbodentür erwischen. Mit vereinter Kraft ziehen sie die Leiter runter. Langsam steigt er hinauf, verschwindet im staubigen Dunkel und kehrt schließlich mit einer Plastikbox zurück. „Veronika!“ ruft er. Als sie nicht gleich antwortet, beginnt er zu singen: „Veronika, der Lenz ist da, die Vögel singen tralalala“. „Ich komme ja!“ Ächzend erhebt sie sich vom Stuhl. Mann und Kiste heil vom Dachboden zu bekommen ist schwer. Zu schwer, wenn sie ehrlich sind. Noch ein Jahr wird das nicht gutgehen.

Engel für Engel wickeln die beiden aus dem Seidenpapier auf. Jeder bekommt seinen Platz im großen Orchester auf der Anrichte. Dann ist die Kiste fast leer. Die beiden schauen sich in die Augen. Ganz unten in der Kiste sind die bunten Glasvögel. Ein Hochzeitsgeschenk. „Wer schenkt denn zu einer Frühlingshochzeit Weihnachtsschmuck?“, hatte sich Veronika damals gewundert. Jetzt freut sie sich, klemmt die Vöglein an die Lampe. Vielleicht zum letzten Mal. Ihr Mann schaut hoch zur Lampe und den Vögelchen und seufzt. Sie legt ihm eine Hand auf die Schulter und schaut mit ihm hinauf ins Licht.

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