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Montag, 29. November 2021

„Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet!“

Predigt von Pfarrer Dr. Joachim Vette:

Liebe Gemeinde,

Heute steht eine Glocke in unserer Mitte, die mit großer Vorfreude erwartet wird. Nach zwei Jahren wird diese Glocke wieder läuten. Sie wird hin und her schwingen, Luft in Schwingung bringen und Schallwellen erzeugen. Und wir hier unten werden sie zwar nicht sehen, aber wir werden sie hören.

Auf dieser Glocke steht ein bekannter biblischer Text: „Wachet und betet, dass ihr nicht Anfechtung fallet.“ Seit der Ältestenkreis mich eingeladen hat, zu dieser Glocke, zu diesem Spruch eine Predigt zu halten, geht mir die Frage durch den Kopf: „Was bringt mich zu beten?“ Ich würde gerne sagen können, dass mich nichts zum Beten bringen muss, weil ich aus eigenem Antrieb regelmäßig und viel bete. Das wäre nicht ehrlich. Wenn meine Frau und ich es schaffen, gemeinsam zu Essen, beten wir regelmäßig ein Tischgebet, aber ansonsten gibt es lange Zeiträume, in denen ich nicht bete, in denen alles andere wichtiger ist und keine Zeit bleibt, ich mir keine Zeit nehme, um zu beten. Es würde mir so gut tun, und doch bete ich viel zu wenig. Was bringt mich also zum Beten? Drei Szenen sind mir durch den Kopf gegangen, die ich mit Ihnen teilen möchte.

Erstes Bild:

Wenn man von Mannheim mit dem Fahrrad nach Heidelberg fährt, kommt man am Neckar entlang zur Brücke, die von Seckenheim nach Ilvesheim führt. Vielleicht kennen Sie die Stelle. Neckarwiesen auf beiden Seiten und quer über dem Fluss der geschwungene Brückenbogen. Bei gutem Wetter und guter Laune ist das eine wunderbare Strecke, wo man das Fahrrad einfach gleiten lassen kann.

Das Wetter war an diesem Tag zwar gut, aber meine Laune mies. Es war wieder ein typischer Pandemie-Tag in sanctclara gewesen, mit Ärger über unklare Hygiene-Regelungen, Absagen von Veranstaltungen, die nicht stattfinden konnten und verunsicherten Mitarbeiterinnen, die nicht wussten, wie es nächste Woche weitergeht. Einer der Tage, an denen man darüber nachdenkt, alles hinzuschmeißen.

So komme ich mit meinem Fahrrad am Neckar entlang zur Ilvesheimer Brücke. Und zum Spielplatz, der dort auf der Wiese steht. Nur sieht man den Spielplatz nicht. Der entzieht sich dem Blick, leicht erhöht und hinter Bäumen. Nur die große Schaukel – die steht direkt neben dem Fahrradweg. Und diese Schaukel schaukelte, mit großen Schwingungen hin und her. Aber es saß keiner darauf. Ein Kind musste wohl von der Schaukel abgesprungen und zum Spielplatz gerannt sein, kurz bevor ich mit meinem Rad um die Ecke kam. Ich sah nur die Schaukel vor dem strahlend blauen Himmel, frei schwingend ohne Zweck und ohne Grund. Es war atemberaubend schön. Ich konnte nicht anders – ich blieb stehen und mir purzelten plötzlich ganz viele Erinnerungen durch den Kopf, wunderschöne Bilder eines reichen gelebten Lebens, Erinnerungen an meine Kinder als sie klein waren. Ich sprach ein Dankgebet und bat Gott darum, all dies nicht zu vergessen und mich von meinen inneren Schatten nicht gefangen nehmen zu lassen. Ein kurzer Moment – keine 30 Sekunden – aber ein Moment des Neu-Beginnens.

Zweites Bild:

Mein Vater leidet seit einigen Jahren an Demenz, aber im letzten Jahr hat es sich in rasender Geschwindigkeit verstärkt. Es begann mit Wortfindungsstörungen, bald konnte er sich kaum noch mit uns verständigen. Für eine Weile konnten wir ihm noch vorlesen und war er geistig wach genug, um zu folgen. Und dann, im ersten totalen Lockdown im Frühjahr letztes Jahr, entdeckte mein Vater YouTube. Er saß stundenlang auf seinem Lieblingsstuhl in der Küche, wo der Rechner steht, und sah alte Interviews mit seinem Idol Helmut Schmidt, Ausschnitte von Talkshows mit Maybritt Illner, Dokumentarfilme über den Bau der Frauenkirche in Dresden und vor allem gestreamte Gottesdienste, immer wieder gestreamte Gottesdienste. Ich komme also in die Küche und einer dieser Gottesdienste geht gerade zu Ende. Ich höre über die Lautsprecher des Rechners die Worte „…wie uns Jesus zu beten gelehrt hat“ und sehe, wie mein Vater, der nicht mehr sprechen kann, seine Lippen bewegt und leise aber deutlich das Vater Unser mitbetet.

 

Drittes Bild:

Die Gemeinde versammelt sich am Sonntagmorgen. Es ist eine kleinere Gruppe als sonst hier üblich. Viele sind daheim geblieben – aus Angst vor Ansteckung oder weil im letzten Jahr mit allen Einschränkungen die Routine, sonntags in den Gottesdienst zu gehen, einfach verloren gegangen ist. Auch hier sind die Müdigkeit und die Unsicherheit spürbar. Wie lange noch? Reicht die Kraft? Sind wir sicher? Wie wird es dieses Jahr mit Weihnachten? Die Versuchung ist da, aufzugeben. Aber es ist Advent, die Kerze leuchtet auf dem Kranz und die Pfarrerin geht nach vorne, lässt die Gemeinde aufstehen und sagt schlicht: Lasst uns beten. Und ein Raum entsteht, in den ich mich fallen lassen kann. Auch wenn ich es alleine nicht schaffe zu beten, hier – in Gemeinschaft – gerät etwas ins Schwingen, in das ich einstimmen kann.

Das Läuten der Glocken ist weit über die Kirchenmauern hinaus hörbar. „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet“ ruft uns eine dieser Glocken zu. Sie kann uns zum Beten bringen, wenn wir auf sie hören. In aller Unsicherheit, in aller schlechter Laune, in aller Resignation – in aller Anfechtung kann sie eine Sehnsucht in uns zum Schwingen bringen, eine Sehnsucht, von Gott gesehen und gehört zu werden. Von ihm umgeben zu sein in allem was uns beschäftigt. Eine Sehnsucht, dass in Momenten der Stille unser tiefstes Bedürfnis erfüllt wird: „Herr, sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

Amen

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